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Titel
Cartographic Humanism. The Making of Early Modern Europe


Autor(en)
Piechocki, Katharina N.
Erschienen
Anzahl Seiten
311 S.
Preis
€ 40,92
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Isabella Walser-Bürgler, Ludwig Boltzmann Institut für Neulateinische Studien, Innsbruck

Mit Katharina Piechockis gut recherchierter Studie zu den Europavorstellungen des 16. Jahrhunderts liegt ein weiterer Meilenstein der frühneuzeitlichen Europaforschung vor. Der interdisziplinäre Wert dieser Studie kann nicht hoch genug geschätzt werden. Es verschmelzen darin Ideen-, Wissenschafts- und Politikgeschichte auf derart überzeugende Weise mit neulateinischer Philologie und volkssprachlicher Literaturwissenschaft, dass der strikt monodisziplinäre Zugang zum Thema wohl grundsätzlich hinterfragt werden muss.

Inhaltlich macht es sich die Autorin zur Aufgabe, die kartografische „Erfindung“ Europas im 16. Jahrhundert nachzuzeichnen. Vor 1600, so wird in der Einleitung argumentiert (S. 1–25), stellte Europa nicht mehr als ein vages geografisches Konzept dar, geprägt von unklaren inneren und äußeren Grenzen. Im Zuge der hegemonialen, imperialistischen und kolonialistischen Bestrebungen nahm dieses Konzept aber zunehmend Gestalt an und bereitete so den Europadiskurs des 17. und 18. Jahrhunderts vor. Als Motor dieser Entwicklung macht Piechocki die Kartografie aus, die sie zum Instrument der europäischen Selbstreflexion stilisiert. Erst durch kartografische Verortungsversuche konnte sich Europa ab dem Ende des 15. Jahrhunderts in der sich stetig verändernden kosmografischen Realität – verändert etwa durch Kolumbus’ Überquerung des Atlantiks (1492), Vasco da Gamas Umrundung des Kaps der Guten Hoffnung (1498), Magellans Weltumsegelung (1519–1522) und Kopernikus’ Einführung des heliozentrischen Weltbildes (1543) – neu finden und überhaupt erst begreifen lernen.

Im Zentrum der Untersuchung stehen aber nicht geografische Karten im engen Sinn (wenn überhaupt, dann dienen diese nur zur Ergänzung des eigentlichen Arguments), sondern literarische und wissenschaftliche „Bilder von Europa“. Die kartografische Herausbildung Europas wird dabei anhand von fünf zentralen Texten des 16. Jahrhunderts beleuchtet: Conrad Celtis’ Quatuor Libri Amorum (1502), Maciej Miechowitas Tractatus de Duabus Sarmatiis (1517), Geoffroy Torys Champ fleury (1529), Girolamo Fracastoros Syphilis sive Morbus Gallicus (1530) und Luís de Camões’ Os Lusíadas (1572). An diese Textauswahl knüpfen sich gleich zwei positive Beobachtungen hinsichtlich Piechockis Umgang mit dem frühneuzeitlichen Europadiskurs: Erstens erschließen die Texte den Leser/innen einen Raumzusammenhang zwischen Deutschland, Polen, Frankreich, Italien und Portugal einerseits und zwischen Europa und Amerika bzw. Asien andererseits, der bislang nur äußerst selten in dieser Form Beachtung und komparatistische Aufarbeitung fand. Zweitens handelt es sich bei den Texten nicht um die typischen Beispiele eines christlich oder monarchistisch geprägten Europabewusstseins, die seit Jahrzehnten im wissenschaftlichen Diskurs ohne großen Erkenntniszuwachs wiedergekäut werden.

Im Hauptteil der Studie widmet Piechocki jedem der fünf Texte jeweils ein substanzielles Kapitel. Das erste Kapitel (S. 26–67) untersucht Conrad Celtis’ Versuch, ein „neues“ Europa zu schaffen, indem der Autor den liebeskranken Protagonisten seines Elegienzyklus an den nördlichen, östlichen, südlichen und westlichen Grenzen des deutschen Reiches entlangwandern lässt. Während Nürnberg dabei als heimliche Hauptstadt des Reiches und Zentrum der zeitgenössischen Kartenproduktion zum Nabel Europas avanciert, stellen die Grenzen in allen vier Himmelsrichtungen historisch-kulturelle Beziehungen zum Rest Europas her. Besondere Erwähnung verdient an dieser Stelle Piechockis beeindruckende philologische Detailarbeit, auf Grundlage derer sie Celtis’ sprachliche und metrische Finessen als Ausdruck seines innovativen Europabewusstseins wertet.

Im zweiten Kapitel (S. 68–106) nimmt die Autorin Maciej Miechowitas lateinische Beschreibung Osteuropas und Kleinasiens als das erste frühneuzeitliche Grenzmanifest in den Blick. Anschaulich und gewissenhaft analysiert sie, wie Miechowita die seit der Antike bestehende Festlegung von Europas Ostgrenze (zu der Zeit waren das der Don und die mythischen Rhipäischen Berge) zurückweist und stattdessen die Krim in Analogie zu den insularen Grenzbefestigungen im Westen des Kontinents zur Ostgrenze erhebt. Dabei werden die Begriffe „Grenze“ und „Grenzland“ ebenso einer konzeptuellen Prüfung unterzogen wie die scheinbare Stabilität und Immobilität von Europas Grenzen.

Das dritte Kapitel (S. 107–147) erörtert den Raum Europas aus dem etwas ungewöhnlichen Blickwinkel von Geoffrey Torys französischsprachigem Traktat zur Standardisierung des französischen Alphabets. Die Verbindung zum Europadiskurs ergibt sich einerseits aus der Vorstellung, dass Buchstaben als kleinste grafische Einheiten in ähnlicher Weise das Alphabet bilden wie die grafischen Einheiten einer Karte den Kontinent Europa. Andererseits versteht Tory den Prozess der Europäisierung als kulturellen Ausdruck der Inklusion oder Exklusion von hebräischen, griechischen und arabischen Texten, deren Alphabete wiederum Pate für das französische Alphabet gestanden hätten.

Das vierte Kapitel (S. 148–184) stellt Girolamo Fracastoros lateinische Überlegungen zur Grenze zwischen Europa, der alten Welt, und Amerika, der neuen Welt, in den Mittelpunkt der Untersuchung. Piechocki interpretiert Fracastoros zwischen Europäisierung und Globalisierung hin und her schwankenden Vorstoß, die Kontinente unter Berücksichtigung der globalen Bedrohung der Syphilis voneinander abzugrenzen, als „syphilitische Kartografie“. Mit Fracastoros Meinung, dass alle Landmassen unter Wasser miteinander verbunden und die Küstenlinien in ständiger Bewegung seien, fordere der Mediziner überdies das gängige Konzept der Kontinentalgrenze heraus. Piechockis Analyse von Fracastoros Wortspielen rund um die Begriffe „unda“ (Welle) und „unde“ (woher) sind dabei von zentraler Bedeutung.

Das fünfte Kapitel (S. 185–229) unterzieht Luís de Camões’ portugiesisches Epos vor dem Hintergrund der dunklen Seite zeitgenössischer Kartografie einer kritischen Neubewertung. Anhand der Ekphraseis des Indischen Ozeans beleuchtet Piechocki die Kartografie als Instrument der europäischen Kolonialisierung. Indem Camões diese nämlich dazu benutzte, um die südliche Hemisphäre zu europäisieren (durchaus auch im wörtlichen Sinn durch die geografische Spiegelung des indischen Ozeans mit dem Mittelmeer bzw. der südlichen mit der nördlichen Hemisphäre), wurde die europäische Identität affirmativ auf die eroberten Gebiete übertragen bzw. die Ausübung europäischer Kolonialmacht gerechtfertigt.

Insgesamt handelt es sich bei Piechockis Studie um einen komplexen Beitrag zur Erforschung des Europaverständnisses in der Renaissance. Anschauliche Illustrationen (vornehmlich frühneuzeitliche Karten und Frontispize) lockern die durchaus anspruchsvolle Lektüre auf. Dass die Herausbildung Europas in keinem der Kapitel als lineare Entwicklung beschrieben wird, ist nur einer der wesentlichen Punkte, der die Studie positiv von so manchen anderen Untersuchungen zum frühneuzeitlichen Europabewusstsein abhebt. Die Tatsache, dass die geografisch-räumliche Ausprägung des Europadiskurses bislang weit hinter den ideologischen Konzeptualisierungen zurückstand und durch Piechockis Ambitionen nunmehr neue Impulse erhält, ist ein weiterer Pluspunkt. Zudem darf die vorliegende Monografie – obwohl dies von der Autorin selbst nie explizit erwähnt wird – als ernsthafte Auseinandersetzung mit der Rezeption der ptolemäischen Geografie im 15. und 16. Jahrhundert aufgefasst werden. Diese findet in so gut wie jedem Kapitel ihren Niederschlag, wo sie jeweils als intertextuelle Vorlage dient.

Ein einziger negativer Aspekt sticht ins Auge, der aber weniger der Arbeit der Autorin als vielmehr den Verlagsgepflogenheiten geschuldet ist: die leserunfreundliche Handhabung der „Notes“ (S. 241–296). Die an die Untersuchung angehängten Referenzen erweisen sich im Vergleich zu herkömmlichen Fußnoten als überaus unpraktisch, zumal es kein zusätzliches Literaturverzeichnis gibt. Wenn man also etwa eine bestimmte Referenz sucht oder sich gar eingehender mit ausgewählten Primärzitaten auseinandersetzen will, muss man sich erst mühsam und ohne jegliche Anhaltspunkte durch die Referenzliste kämpfen. Dies tut dem beeindruckenden Forschungsbeitrag Piechockis aber keinerlei Abbruch, der das weite Feld der frühneuzeitlichen Europaforschung gewissermaßen neu ausmisst.